II. Schicksale der Handschrift
Der Himmel
Bei Ulla Hahn kehren die Worte aus Walter von der Vogelweides Lindenlied eingebettet in ein Liebesgedicht wieder:
Ellbogen, Kinn und Wange konturieren hier nicht mehr die Denkerpose, sondern bezeichnen die innige, körperliche Nähe der Liebenden: „Der Himmel liegt seit heute Nacht / in einem Ellenbogen / darein hatt' ich gesmôgen / das kin und ein mîn wange / viel lange Zeit.” Das Motiv des Gedichts greift die mittelalterliche Gattung des Tageliedes auf, das das Aufwachen eines Paares nach einer heimlich miteinander verbrachten Nacht schildert. Während sich Dame und Ritter der Vormoderne allerdings bei Sonnenaufgang trennen müssen, folgt in Hahns Zeilen auf das nächtliche Stelldichein das gemeinsame Frühstück: „Der Himmel ist einsachtzig groß / und hat die blauen Augen / zum Frühstück aufgeschlagen / all so ist auch sein Magen / von dieser Welt.”
II.23c Ulla Hahn: Der Himmel. Gedicht, in: Dies.: Herz über Kopf, München 1981, S. 12
UB Heidelberg, FA 5545 MV