IV. Die Macht der Minne
Das ritterlich-höfische Gesellschaftsideal
Thomasin von Zerklaere beschreibt in seinem 1215/16 verfassten „Welschen Gast” das Leben des vorbildlichen Ritters. Gegen den mit Tugenden gewappneten Ritter kämpfen die Scharen der Laster: Es sind Hoffart (hôhvart), Unkeuschheit (unkiusche), Geiz und Bosheit (erge) sowie Trägheit (trâkeit).
Diesen dem christlichen Katalog der sieben Todsünden entnommenen Untugenden möge ein edler Ritter entgegentreten mit den Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit, des Glaubens, der Hoffnung, der Tapferkeit, der Enthaltsamkeit und der Beständigkeit.
Der höfische Liebesdiskurs des 12. und 13. Jahrhunderts ist von Anfang an zugleich eine Diskussion über das ritterlich-höfische Gesellschaftsideal. Vor allem in den Geschichten von den Rittern der Tafelrunde am Hof des Königs Artus wurde nicht nur ein poetisches Idealbild der Liebe, sondern das einer ganzen Gesellschaft entworfen: Der religiöse Rittergedanke der Gottesfriedens- und Kreuzzugsbewegung verband sich mit weltlichen Dingen wie äußerem Glanz, Stärke, körperlicher Schönheit, hoher Abkunft und einem feinen, wohlerzogenen Benehmen zu einer poetischen Konzeption des Rittertums.
IV.31 Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast, Bayern (Regensburg?), um 1256
UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 389, Bl. 116r: Der Kampf der Tugenden gegen die Laster