IV. Die Macht der Minne
Der Selbstmord der Lucretia
Vergewaltigung – Perversion freiwilliger Liebe
Die Freiwilligkeit ist eine der grundlegenden Leitvorstellung der höfischen Liebe. Keinesfalls darf die Frau gegen ihren Willen bedrängt werden, vielmehr muss der Ritter versuchen, sie durch sein Werben für sich zu gewinnen – es ist verwerflich, wenn der Mann Zwang oder gar körperliche Gewalt ausübt, um an sein Ziel zu gelangen.
Eines der bekanntesten Gegenbeispiele für die geforderte Freiwilligkeit der Liebe ist die Geschichte der Römerin Lucretia. Berühmt für ihre Schönheit und wegen ihrer Tugend angesehen, war ihr Mann Collatinus des Lobes voll und pries ihre Vorzüge allenthalben. Dies weckte den Neid und das Begehren anderer Männer. Einer war Sextus Tarquinius, der Sohn des Königs Tarquinius Superbus, der im 6. Jh. v. Chr. in Rom herrschte. Sextus droht, sie des Ehebruchs mit einem Diener zu bezichtigen, so dass sich Lucretia auf einen Beischlaf mit ihm einlässt. Danach begeht sie Selbstmord.
Der Holzschnitt fängt diese Szene ein: Während Lucretia mit dem Dolch im Herzen bereits zu Boden sinkt, versucht ihr Mann Collatinus sie noch zu stützen. Der durch dieses Geschehen entfachte Aufstand des empörten Volkes gegen den Monarchen gilt als Anfang der Römischen Republik.
IV.12 Titus Livius: Römische Historien, Mainz: Johann Schöffer, 1523
UB Heidelberg, T 2036 RES
Bl. 20v Selbstmord der Lucretia