III. Die Entdeckung der höfischen Liebe
Norbert Elias und die „Verhöflichung der Krieger”
Der Soziologe Norbert Elias (1897‒1990) entwickelte eine der einflussreichsten Theorien zur Entstehung des Minnesangs. Er interpretierte die mittelalterliche Liebeslyrik als literarischen Ausdruck einer zunehmenden Verhaltensverfeinerung der weltlichen Oberschicht.
Elias formulierte seine Theorie in der berühmt gewordenen Studie „Über den Prozeß der Zivilisation”. Darin stellte er die Frage, wie sich in den Gesellschaften des abendländischen Europa die heute gebräuchlichen Umgangsformen herausbildeten. Seine Beispiele reichen vom Gebrauch des Bestecks beim Essen bis hin zum Umgang mit den natürlichen Bedürfnissen des Körpers. Die Tendenz zu einer zunehmenden Verfeinerung des Verhaltens erklärt Elias aus dem Zusammenwirken psychogenetischer und soziogenetischer Faktoren: Je komplexer das Geflecht der Abhängigkeiten der Menschen voneinander ist, desto strenger kontrollieren sie auch ihre Triebe und desto kontrollierter ist ihr Verhalten. Den Anfang dieser Entwicklung sieht Elias im Mittelalter und der Kultur des Minnesangs.
III.7 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen,
2 Bde., Basel 1939
Heidelberg, Campus-Bibliothek Bergheim, WS/MS 1290 E42-1/2