II. Schicksale der Handschrift
Lied eines Mädchens
Walther von der Vogelweides „Lindenlied” bezauberte Dichter vieler Epochen. Zuerst wurden sie um 1800 von den Romantikern entdeckt. Die Frage nach der Moral dieser heimlichen Liebe beschäftigte die Dichter dieser Zeit besonders.
Der Dichter Johann Martin Miller erstreckte Walthers kurzes Gedicht auf neun Strophen, indem er – den Schrecken des Mädchens in der letzten Strophe aufgreifend – dem Text eine Vorgeschichte des Treffens voranstellte. Darin lässt er die Frauenstimme betonen, dass der „schoene, junge Rittermann” ihr schon lang und beharrlich den Hof gemacht. Zuvor habe ihr immer der drohende Zeigefinger der Mutter vor Augen gestanden. Jetzt aber, wo er ihr soviel von „Angst und Noth / Zuletzt vom Sterben gar” gesprochen habe, da habe sie ihm „wahrlich” nicht mehr zu „entfliehn” vermocht: „Denn weinend bat er mich, / Und weinend setzt' ich neben ihn / Aufs Blumenlager mich.”
II.24b Johann Martin Miller: Lied eines Mädchens, in: Ders.: Gedichte, Ulm: Wohler, 1783, S. 144-145,
UB Heidelberg, 95 C 514 ML