HandSchrift – Bewährt mit Pinsel und Feder
Stifter, Kaiser, Bürgerin – und einige offene Fragen
Das „Opus commentariorum“ des italienischen Humanisten Giovanni Tortelli (um 1400–1466) erläutert lateinische Wörter, die aus dem Griechischen stammen. Der Band gehörte ab 1520 dem Augustiner-Chorherrenstift St. Michael zu den Wengen in Ulm.
Der Beginn der Vorrede wurde für einen unbekannten Vorbesitzer mit Buchmalerei ausgestattet. Der Platz war im Druck ausgespart worden, der Buchmaler fügte dann eine farbige Initiale ein, in deren Binnenraum vor poliertem Goldgrund der Autor sein Werk einem Kaiser darbringt. Dieser ist mit Bügelkrone und goldenem „Reichsapfel“ gekennzeichnet. Der Gelehrte hat sein Barett abgenommen und neigt demütig das Haupt. Hinter den beiden steht der Schwertträger des Herrschers in höfischer Kleidung. In den Teilbordüren mit ornamentalem Rankenwerk ist oben eine kleine Eule, unten links ein Fuchs sowie zwei Vögel, seine potentielle Beute, zu sehen. Der äußere Seitenrand zeigt neben einer dekorativen Erdbeerpflanze eine Frau mit einer Schriftrolle in der Rechten. Die Deutung der Buchstaben („DM dAT“) ist bisher nicht gelungen. Die Haube der Dame zeigt, dass sie verheiratet ist, das Kleid deutet auf eine wohlhabende Bürgerin. Am wahrscheinlichsten ist es, dass hier eine Stifterin im Bild auftritt, die den Band erworben und zur Verfügung gestellt hat.
Als Entstehungsort der qualitativ hochwertigen Malerei kommt ein städtisches Zentrum im deutschen Südwesten in Frage, vor allem Ulm oder Augsburg. Der Band ist ein typisches Beispiel dafür, dass im 15. Jahrhundert bei der künstlerischen Ausstattung kein Unterschied zwischen Druck und Handschrift gemacht wurde.
I.9
Johannes Tortellius: Orthographia, hrsg. von Girolamo Bologni, Venedig: Hermann Liechtenstein, 12. November 1484 (GW M47221)
Papier, 198 Bll., Deckfarbenmalerei und Blattgold, Ulm (?), um 1484–1490
WLB Stuttgart, Inc. fol. 15569 (HB), Bl. A2a