Vinzenz Gottlieb, UB Heidelberg
Im Jahr 1623 verlor Heidelberg die „Mutter aller Bibliotheken“ (nach Johann Peter Kayser, 1733), als Leone Allacci die Bibliotheca Palatina nach Rom brachte. Im Gegensatz zu vielen anderen kriegsbedingten Kulturgutverlusten führte das aber nicht zu ihrer Vernichtung. Das lag auch an der außergewöhnlichen Sorgfalt, mit der der Scriptor der Vatikanischen Bibliothek zu Werke ging. Trotzdem konnte er nicht alle Handschriften erlangen, die er erwartete: Manche waren schlicht ausgeliehen und daher nicht erreichbar. Dank der noch vorhandenen Ausleihscheine (vgl. Augustin Theiner 1844, S. 87-92) können wir nachvollziehen, wohin sie entliehen worden waren. Doch während drei Handschriften, die über 260 Jahre unerkannt in Wittenberg/Halle lagen, inzwischen zurückgegeben worden sind (vgl. Blogeintrag Leihfristende nach über 260 Jahren), und andere zumindest identifiziert werden konnten (Pal. gr. 279 in Paris, Pal. gr. 405 in Stockholm), ist der Verbleib einiger noch unbekannt.
Die griechischen Handschriften der Bibliotheca Palatina, einst 448 Stück, befinden sich heute überwiegend in Rom, während ein kleiner Teil – darunter die berühmte Anthologia Palatina – seit 1816 wieder in Heidelberg ist. In dem von der Polonsky Foundation geförderten Greek Manuscript Project wurden die Handschriften digitalisiert und wissenschaftlich erschlossen. Digitalisiert ist auch ein Katalog von 1590/91, den der Gelehrte und spätere Bibliothekar Friedrich Sylburg anfertigte (BAV, Pal lat 429bis). Für seine Zeit ist der Katalog ungewöhnlich ausführlich. Eine Abschrift soll auch Allacci besessen haben, als er in Heidelberg die Bibliotheca Palatina zum Transport bereitmachte. Auf einem Zettel vermerkte er alle Signaturen, die er vermisste. Wir können also noch heute nachvollziehen, welche Schätze uns bisher entgangen sind.
Will man nun eine solche Handschrift wiederfinden, so kann man versuchen, ihre Spur seit der Entleihe nachzuvollziehen. Das funktioniert gelegentlich, ist aber nicht immer erfolgversprechend. Eine andere Möglichkeit ist die Suche über bekannte Bestände: Ein Großteil aller bekannten Handschriften befindet sich in öffentlichen Bibliotheken, die in zunehmendem Maße inventarisiert und auch katalogisiert sind. Eine Übersicht über die griechischen Codices bietet dabei die Datenbank Pinakes. Obgleich sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, bietet sie für diese Methode einen geeigneten Einstieg.
So begann ich nun zu suchen: Die Hs. Pal. gr. 33 enthält unter anderem ein Werk des Stephanus Ephesinus. Zu diesem Werk fand ich in Pinakes nur zwei Einträge. Durch deren Vergleich stellte ich fest, dass die Handschrift Kongelige Bibliotek GKS 47 2° in Kopenhagen genau auf die gesuchte passt. Ich verglich sie nun mit dem Kopenhagener Katalog (Vgl. Schartau, S. 65-67) und bemerkte, dass dort die Heidelberger Provenienz bereits bekannt war. In Kopenhagen wussten sie, dass die Handschrift dem Heidelberger Bestand entstammt. Jetzt wissen auch wir, dass diese Handschrift heute in Kopenhagen ist. Mit dieser neu gefundenen Methodik beschloss ich fortzufahren.
Meine Wahl fiel auf die griechische Handschrift mit der Signatur 336. Sie enthält mehrere Tragödien von Euripides, allerdings in einer ungewöhnlichen Zusammenstellung: Im ersten Teil beinhaltet sie die Tragödien Phoenissae, Medea und Hippolytus, im zweiten Teil Scholien zu diesen und weiteren Tragödien. Eine Suche nach einer bestimmten Euripideshandschrift gleicht wegen der Breite der Überlieferung häufig einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen, aber zum Hippolytus gibt es nur 20 Einträge in Pinakes, so dass der Vergleich mit vertretbarem Aufwand möglich war. Den entscheidenden Hinweis erhielt ich über die Digitalisierung der Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. In BSB Cod.graec. 258 war eine eindeutige Spur zu erkennen: Die dort enthaltene Annotation seors. (= Abkürzung für seorsum, lat. für "anders als" zur Kennzeichnung einer Einzelerwerbung) findet man in vielen griechischen Palatina-Handschriften, und die Signatur 336 sowie die Marginalien von der Hand Friedrich Sylburgs erlauben die Identifizierung mit der gesuchten Handschrift. Der genaue Weg nach München ist nicht gesichert, aber mit der Übersiedelung des Pfälzer Kurfürsten Carl Theodor von Mannheim nach München 1778 gelangte auch seine Bibliothek dorthin. Möglicherweise war die Handschrift in der Zwischenzeit zurückgegeben worden und wurde so nach München gebracht, wo sie sich nachweislich seit mindestens 1779 (vgl. Exlibris) befindet.
So konnte ein weiteres Mosaiksteinchen der virtuellen Bibliotheca Palatina hinzugefügt werden. Die Hoffnung auf weitere Funde bleibt bestehen: Allein von den griechischen Handschriften sind noch sechs im Verbleib ungeklärt. Wenn jemand mit den oben genannten Methoden fündig wird, freut sich die Redaktion über Hinweise.
Literatur:
Augustin THEINER, Schenkung der Heidelberger Bibliothek durch Maximilian I. Herzog und Churfürsten von Bayern an Papst Gregor XV. und ihre Versendung nach Rom, mit Originalschriften, München 1844;
Bjarne SCHARTAU, Codices graeci haunienses, ein deskriptiver Katalog des griechischen Handschriftenbestandes der Königlichen Bibliothek Kopenhagen, Kopenhagen 1994, S. 65-67;
Kerstin HAJDÚ: Katalog der griechischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 4: Codices graeci Monacenses 181 - 265, Wiesbaden 2012, S. 380-383.