Liebeslieder aus dem Codex Manesse
Steinmar
Steinmar, ein Vertreter des späten Minnesangs, gilt als raffinierter Kenner der Lyriktradition seiner Zeit. Historisch ist seine Person nicht fassbar. Seine Texte lassen jedoch vermuten, dass er im deutschen Südwesten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts tätig war.
Hier spielt Steinmar parodistisch auf die Szenerie des Tagelieds an, in der sich Ritter und Dame nach einer gemeinsamen Nacht voneinander trennen müssen. Für den Hirten und die Magd in seinem Lied bleibt die nächtliche Liebesfreude dagegen ungetrübt.
Ein kneht der lac verborgen (Bl. 309v)
Ein kneht, der lac verborgen,
bî einer dirne er slief,
Unz ûf den liehten morgen.
der hirte lûte rief:
„Wol ûf, lâz ûz die hert!”
des erschrack diu dirne
und ir geselle wert.
Daz strou, daz muost er rûmen
und von der lieben varn.
Er torste sich niht sûmen,
er nam si an den arn.
Daz höi, daz ob im lac,
daz ersach diu reine
ûf fliegen in den tac.
Davon si muoste erlachen.
ir sigen diu ougen zuo.
Sô suoze kunde er machen
in dem morgen fruo
Mit ir daz bettespil.
wer sach ân geraete
ie fröiden mê sô vil?
Ein Knecht lag im Verborgenen,
bei einer Magd schlief er
bis zum hellen Morgen.
Da rief der Hirte laut:
„Auf jetzt, lass die Herde raus!”
Davon erschraken die Magd
und ihr lieber Gefährte.
Das Strohlager musste er räumen
und von der Geliebten aufbrechen.
Da durfte er nicht säumen,
sie in die Arme zu schließen.
Das Heu, das auf ihm lag,
das sah die Hübsche
auffliegen in den hellen Tag.
Darüber musste sie lachen.
Ihr sanken die Augen zu,
so süß wusste er
früh am Morgen
mit ihr das Bettspiel zu treiben.
Wer hat je wieder ohne viel Aufhebens
so große Freude gesehen?