IV. „Trotz allen Buchstudiums geht doch nichts über die Anschauung“ –
die bibliophilen Quellen und Gartenreisen
Es war der formale, regelmäßige Garten, der Marie Luise Gothein 1909 besonders interessierte. Mit den englischen Gärten der Renaissance und ihrer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert setzte sie sich theoretisch, in der Bibliothek des British Museums, und praktisch, auf Gartenreisen durch ganz England, auseinander. Ihre Basis in London war das Cranston’s Ivanhoe Hotel in Bloomsbury [historische Postkarte außer Katalog].
Sie besuchte Gärten in und um London, reiste aber auch nach Südwesten zu den Gärten von Wilton House und Longford Castle in der Nähe von Salisbury. Die Route ging weiter über Oxford Richtung Norden nach Derby, wo sie die Gärten von Melbourne, Chatsworth und Haddon Hall anschaute.
Die aus heutiger Sicht klassischen englischen Landschaftsgärten wie Stowe oder Stourhead standen nicht auf ihrem Reiseprogramm, dieses Thema hatte Gothein zu diesem Zeitpunkt bereits abgehandelt:
„Mit meiner Arbeit bin ich heute ein ganzes Stück vorwärts gekommen und weiß nun ungefähr wie ich den engl. Renaissancegarten anfassen werde. – Am meisten Furcht habe ich jetzt vor dem englischen Garten, wie gut ist es nur, daß ich damals zuerst über dieses Thema gearbeitet habe, denn das wird mich wenigstens hindern in den Fehler der heutigen Vertreter des regelmäßigen Stiles zu verfallen und nur mit äußerster Verachtung von dem Landschaftsgarten zu sprechen. Bald werden wir nun schon so weit sein, dass ein eigentliches Bild dessen was der Landschaftsgarten will in England kaum noch zu finden ist, denn alle die es irgend vermögen, legen jetzt um die Häuser wieder regelmäßige Gärten mit Terrassen Rampentreppen etc. an [...].“ [Briefzitat aus IV.3c; Brief nicht online verfügbar]
Der formale oder architektonische Stil hatte sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als starke Reaktion auf den dominanten Landschaftsgartenstil durchgesetzt. Architekten der ‚Arts and Crafts‘-Bewegung wie John Dando Sedding und Reginald Blomfield propagierten ein formales Gartenideal, das sie aus dem Gartenstil der englischen Renaissance ableiteten. Haus und Garten sollten als Einheit gestaltet werden. Die Dominanz der Landschaftsgärtner sollte zurückgedrängt werden. Reginald Blomfield setzte das Erbe des früh verstorbenen Sedding mit „The formal garden in England“ von 1892 fort. F. Inigo Thomas untermauerte seine Gestaltungsvorschläge durch künstlerische Stiche.
Der Schlagabtausch zwischen Vertretern des Landschaftsgartenstils, allen voran William Robinson, und Verfechtern des formalen Stils mündete in eine hitzige, polemische Debatte über den wahren englischen Nationalstil.
IV.3
c) Marie Luise Gothein: Brief an Eberhard Gothein, [London] „d. 10.9t.9“
UB Heidelberg, Heid. Hs. 3487,292
d) Reginald Theodore Blomfield / F. Inigo Thomas: The formal garden in England, London: Macmillan, 21892
UB Heidelberg, 2013 C 3613 RES