Codex Manesse
Der „Codex Manesse“, auch „Große Heidelberger Liederhandschrift“ genannt (Cod. Pal. germ. 848), entstand zwischen ca. 1300 und ca. 1340 in Zürich und ist die umfangreichste Sammlung mittelhochdeutscher Lied- und Spruchdichtung.
Der Codex besteht aus 426 beidseitig beschriebenen Pergamentblättern im Format 35,5 x 25 cm, die von späterer Hand paginiert wurden. Insgesamt befinden sich in ihr 140 leere und zahlreiche nur zum Teil beschriebene Seiten.
Die Handschrift enthält 140 Dichtersammlungen in mittelhochdeutscher Sprache und umfasst fast 6.000 Strophen. Ihr Grundstock entstand um 1300 in Zürich. Die umfangreiche Sammlung mittelhochdeutscher Lyrik des Zürcher Patriziers Rüdiger Manesse und seines Sohnes gilt als eine der Hauptquellen für den „Codex Manesse“. Mehrere Nachträge kamen bis ca. 1340 hinzu. Die Handschrift gilt als repräsentative Summe des mittelalterlichen Laienliedes und bildet für den ‘nachklassischen’ Minnesang die hauptsächliche und in vielen Fällen einzige Quelle.
Die in gotischer Buchschrift von mehreren Händen geschriebene Handschrift überliefert die mittelhochdeutsche Lyrik in ihrer gesamten Gattungs- und Formenvielfalt von den Anfängen weltlicher Liedkunst um 1150/60 bis zur Zeit der Entstehung der Handschrift. Melodienotationen zu den Texten fehlen. Der Text wurde nicht nur in immer wieder verbesserten historisch-kritischen Ausgaben herausgegeben, sondern – im Unterschied zu anderen Handschriften – auch zeichengenau abgedruckt.
Berühmt wurde die Handschrift vor allem durch ihre farbenprächtigen, ganzseitigen Miniaturen, die den Strophen von 137 der Sänger vorangestellt sind (eine weitere, die keinem Dichter zugeordnet werden kann, ist nur bis zur Federzeichnung gediehen). Die Miniaturen zeigen die Dichter in idealisierter Form bei höfischen Aktivitäten und gelten als bedeutendes Dokument oberrheinischer gotischer Buchmalerei. Die Miniaturen wurden von vier Malern gefertigt; dem sog. Grundstock-Maler werden 110 Miniaturen zugeschrieben, dem ersten Nachtragsmaler 20, dem zweiten vier und dem dritten drei Miniaturen (+ eine Vorzeichnung).
Für die Reihenfolge der Dichter waren keine chronologischen oder regionalen Gesichtspunkte bestimmend, sondern es wurde das Prinzip der ständischen Rangordnung zugrunde gelegt. So steht am Anfang Kaiser Heinrich VI., der Sohn Friedrich Barbarossas. Es folgen Könige, Herzöge, Markgrafen, Grafen, Freiherren und Ministerialen und schließlich Bürgerliche.
Über die frühen Besitzverhältnisse der Handschrift ist nur wenig bekannt. Sie lässt sich erst wieder am Ende des 16. Jahrhunderts im Besitz des Schweizer Calvinisten Johann Philipp von Hohensax (1550-1596), der seit 1567 zeitweise als pfälzischer Rat und Amtmann für den pfälzischen Kurfürsten amtierte, nachweisen. Wenige Jahre nach der Ermordung von Hohensax erhob Kurfürst Friedrich IV. (1583-1610) einen Rechtsanspruch auf die Handschrift. Nach langwierigen Verhandlungen gelang es ihm im Jahr 1607, den Codex nach Heidelberg zu holen. Ob er schon in früheren Jahren einmal im Besitz der Kurfürsten war, ließ sich bislang jedoch nicht eindeutig nachweisen.
Die Kurfürsten konnten sich nur wenige Jahre an dem Besitz der kostbaren Handschrift erfreuen. Vor der Eroberung Heidelbergs durch die Truppen der katholischen Liga unter Feldherrn Tilly im Jahre 1622 wurde die Handschrift vermutlich von der kurfürstlichen Familie in Sicherheit gebracht und auf der Flucht mitgeführt.
Sie entging so – anders als die berühmte Bibliotheca Palatina – der Verbringung nach Rom in die Biblioteca Apostolica Vaticana. Wahrscheinlich hatte nach dem Tod Kurfürst Friedrichs V. seine Witwe, Elisabeth Stuart, den Codex in finanzieller Notlage verkauft. Er taucht erst wieder im Besitz von Jacques Dupuy auf, Kustos an der Königlichen Bibliothek in Paris, der er die Handschrift nach seinem Tod 1656 vererbte. Am 04. Juli 1657 ging sie offiziell in das Eigentum der Bibliothek über, wo sie dann für über 230 Jahre verblieb.
Die Bedeutung des Codex Manesse für die Überlieferung der deutschen Lyrik des Mittelalters und das damit verbundene große Interesse, das ihm von Seiten der Fachwissenschaft entgegen gebracht wurde, führten seit dem frühen 19. Jahrhundert zu verschiedenen Anstrengungen, die Handschrift nach Deutschland zurückzubringen. Aber weder die Verhandlungen nach dem Sieg über Napoleon noch verschiedene andere Bittgesuche und Tauschangebote führten zum Erfolg. Auch fachwissenschaftliche Gutachten erbrachten keine Anhaltspunkte für einen deutschen Rechtsanspruch.
Erst 1887 fädelte der in Heidelberg geborene Straßburger Buchhändler Karl Ignaz Trübner (1846-1907) ein kompliziertes Tauschgeschäft ein: Die Pariser Bibliothèque Nationale erhielt im Gegenzug für die Herausgabe der Manessischen Handschrift neben der Zahlung von 150.000 Francs insgesamt 166 wertvolle Handschriften – darunter 23 im Skriptorium von Tours entstandene karolingische Handschriften – zurück, die Bücherdiebe in den vierziger Jahren in Paris entwendet hatten. Reichskanzler Otto von Bismarck genehmigte die Bereitstellung der für den Ankauf der französischen Handschriften erforderlichen 400.000 Mark aus dem Dispositionsfonds, so dass diese von Trübner am 23. Februar1888 in London an die französische Delegation übergeben werden konnten. Kaiser Friedrich III. verfügte, dass die Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg als der rechtmäßigen Nachfolgerin der Bibliotheca Palatina zur ständigen Aufbewahrung übergeben werden sollte. Feldjäger brachten sie von Paris nach Heidelberg, wo sie am 10. April 1888 eintraf.
Angesichts drohender Kriegsgefahr wurde der Codex Manesse am 26. August 1939 zusammen mit den beiden Gründungsurkunden der Heidelberger Universität unter strengster Geheimhaltung in die Universitätsbibliothek Erlangen verbracht. 1942 fürchtete man im Badischen Ministerium dennoch um die Sicherheit der kostbaren Zimelien, so dass sie im August 1942 in einen Luftschutzkeller nach Nürnberg überführt wurden. An den gleichen Ort wurden zu diesem Zeitpunkt der Heidelberger Sachsenspiegel (Cod. Pal. germ. 164) und die Anthologia Palatina (Cod. Pal. graec. 23) ausgelagert. Nach Kriegsende wurden die Heidelberger Handschriften und Urkunden durch US-Offiziere nach Heidelberg zurückgebracht und wurden am 11. April 1947 wieder der Universitätsbibliothek übergeben.
Das bewegte Schicksal der Handschrift hat seine Spuren hinterlassen. So weisen viele Miniaturen kleinere oder größere Farbabsplitterungen auf und Tintenfraß hat an verschiedenen Stellen den Text verblassen lassen. Schon seit vielen Jahren wird der Codex im klimatisierten Tresor der Universitätsbibliothek aufbewahrt und wird heute aus konservatorischen Gründen nur noch äußerst selten im Rahmen von Ausstellungen gezeigt. Noch in Paris wurde 1852 das erste Teilfaksimile veröffentlicht. 1887 erschien anlässlich der 500-Jahrfeier der Heidelberger Universität (1886) eine rasch vergriffene Faksimileausgabe aller Miniaturen. 1925/1927 brachte dann der Leipziger Insel Verlag ein Vollfaksimile heraus. Ein Exemplar dieses Faksimiledrucks kann im Foyer des Obergeschosses der Universitätsbibliothek besichtigt werden.
1988 veranstaltete die Universität Heidelberg eine umfassende Ausstellung zum Codex Manesse. Der Katalog zur Ausstellung dokumentiert die Handschrift selbst, ihre Entstehung, Geschichte und Bedeutung.
Als Beitrag zum 625-jährigen Jubiläum der Universität präsentierte die Universitätsbibliothek Heidelberg vom 26. Oktober 2010 - 20. Februar 2011 mit dem Codex Manesse ihren wertvollsten Schatz seit langer Zeit wieder im Original.
(M. Effinger)