Liebeslieder aus dem Codex Manesse
Wolfram von Eschenbach
Wolfram von Eschenbach nannte sich vielleicht nach der mittelfränkischen Stadt Eschenbach bei Ansbach. Der Autor des „Parzival” war Berufsdichter und fand einen seiner Gönner im Landgrafen Hermann von Thüringen. In seinem Werk spricht er mehrfach über sich selbst; außerliterarisch ist seine Person jedoch nicht bezeugt.
Wolfram werden neun Minnelieder zugeschrieben. Im Mittelpunkt seiner Lyrik steht das Motiv der heimlichen Liebe, des Abschieds zweier Liebender bei Tagesanbruch nach einer heimlichen Liebesbegegnung. Das Lied betont zugleich den Trennungsschmerz und den Augenblick der letzten Liebesvereinigung.
Ez ist nu tac (Bl. 150r)
„Ez ist nu tac. daz ich wol mac mit wârheit jehen.
ich wil niht langer sîn.”
‚diu vinster naht hât uns nu brâht ze leide mir
den morgenschîn.
Sol er von mir scheiden nuo,
mîn vriunt, diu sorge ist mir ze vruo.
ich weiz vil wol, daz ist ouch ime,
den ich in mînen ougen gerne burge,
möht ich in alsô behalten.
mîn kumber wil sich breiten:
ôwê des, wie kumt ers hin?
der hôhste vride müeze in noch an mînen arn geleiten.’
Daz guote wîp ir vriundes lîp vaste umbevie:
der was entslâfen dô.
dô daz geschach, daz er ersach den grâwen tac,
dô muost er sîn unvrô.
An sîne bruste dructe er sie
und sprach: „jôn erkande ich nie
kein trûric scheiden alsô snel,
und ist diu naht von hinnen alze balde.
wer hât sî sô kurz gemezzen?
der tac wil niht erwinden.
hât minne an saelden teil,
diu helfe mir, daz ich dich noch mit vröiden müeze vinden.”
Si beide luste, daz er kuste sî genuoc.
gevluochet wart dem tage.
urloup er nam, daz dâ wol zam, nu merket wie:
dâ ergie ein schimpf bî klage.
Si hâten beide sich bewegen,
ez enwart sô nâhen nie gelegen,
des noch diu minne hât den prîs.
ob der sunnen drî mit blicke waeren,
sine möhten zwischen sî geliuhten.
er sprach: „nu wil ich rîten.
dîn wîplîch güete neme mîn war
und sî mîn schilt hiute hin und her noch zallen zîten.”
Ir ougen naz dô wurden baz. ouch twanc in klage:
er muoste von ir.
si sprach hin zime: ‚urloup ich nime ze den vröiden mîn:
diu wil gar von mir.
Sît ich vermîden muoz
dînen munt, der manigen gruoz
mir bôt, unde ouch dîn kus,
alse in dîn ûzerwelte güete lêrte
und dîn geselle, dîn triuwe: ‒
weme wiltu mich lâzen?
nu kum schiere wider ûf rehten trôst!
owê dur daz mac ich strenge sorge niht gelâzen.’
„Es ist jetzt Tag! Das kann ich mit großer Gewissheit sagen.
Ich werde nicht länger bleiben.”
’Die finstere Nacht hat uns jetzt mir zum Schmerz
den Schimmer des Morgens gebracht.
Muss er sich jetzt von mir trennen,
mein Geliebter, dann kommt mir dieser Kummer allzu früh.
Ich weiß gewiss, auch ihm geht es so,
den ich gerne in meinen Augen bergen würde,
wenn ich ihn auf diese Weise behalten könnte.
Mein Schmerz wird immer größer:
Ach, wie kommt er von hier fort?
Der Friede des Höchsten möge ihn noch einmal in meine Arme führen.’
Fest umschlang die edle Frau ihren Geliebten:
Der schlief noch.
Als es nun geschah, dass er den grauenden Tag erblickte,
da wurde er unglücklich.
An seine Brust drückte er sie
und sprach: „Wahrhaftig, noch nie
habe ich einen so schnellen und traurigen Abschied erlebt,
die Nacht ist allzu früh dahingegangen.
Wer hat sie so kurz gemessen?
Der Tag will nicht länger auf sich warten lassen.
Hat Liebe Anteil an der Glückseligkeit,
dann helfe sie mir, dass ich dich noch einmal mit Freuden wiederfinden möge.”
Sie beide verlangte es danach, dass er sie oftmals küsste.
Geflucht wurde dem Tag.
Er nahm Abschied, wie es sich da gehörte, passt auf, wie:
Vergnügen und Klage verbanden sich da.
Aufs Geratewohl hatten beide sich entschlossen
und lagen einander so nahe,
dass dafür noch heute der Liebe höchstes Lob gebührt.
Selbst wenn da drei Sonnen gewesen wären,
so hätten sie mit ihren Strahlen nicht zwischen ihnen hindurchscheinen können.
Er sprach: „Nun will ich reiten.
Deine frauliche Vollkommenheit gebe acht auf mich
und sei mein Schild in Abschied und Wiederkehr heute und allezeit.”
Da füllten sich ihre Augen noch mehr mit Tränen. Auch ihn überwältigte der Schmerz:
Er musste von ihr fort.
Sie sagte zu ihm: ’Abschied nehme ich von meinem Glück:
Das will mich ganz und gar verlassen.
Da ich nun entbehren muss
Deinen Mund, der mich so oft
grüßte, und auch Deinen Kuss,
wie ihn Dir Deine einzigartige Liebe eingab
und Dein Gefährte, Deine Treue: ‒
Wem lieferst Du mich aus?
Nun komm bald wieder, uns zu helfen!
Ach, ich kann bittere Sorge darüber nicht unterdrücken.’